Der erste Krieg auf europäischen Boden seit über 70 Jahren führt zu einer "Zeitenwende". Gemeint ist damit, dass in den letzten Jahrzehnten gewachsene politische und wirtschaftliche Gewissheiten nun hinterfragt werden müssen. Wir sehen eine Aufrüstungsspirale in Europa, potenzielle Blockbildungen von demokratischen Staaten (USA, Europa) einerseits und Autokratien (Russland, China) andererseits sowie zunehmende inflationäre Tendenzen durch stark steigende Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelpreise. Das Konzept der Globalisierung, welches über Jahrzehnte für weltweiten, wachsenden Wohlstand sorgte, wird aufgrund der damit verbundenen wirtschaftlichen Abhängigkeiten zunehmend auf den Prüfstand gestellt und die Zinsen beginnen wieder zu steigen.
Diese unerwarteten und auch erschreckenden Entwicklungen haben Auswirkungen auf unsere makroökonomischen Szenarien, die wir in ein Basis-, ein Upside- und ein Downside-Szenario einteilen. Das Upside-Szenario, welches von einem schnellen Ende des Ukraine-Krieges und von einer Normalisierung der Weltwirtschaft mit höherem Wachstum und niedriger Inflation ausgeht, wird von uns nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 10% bewertet. Das Downside-Szenario, welches eine Rezession in Europa sowie ein schwaches Wachstum in den USA und China beinhaltet, haben wir aufgrund des Risikos von Rohstoff- und Energieengpässen aufgrund von Embargoentscheidungen von 25% auf 30% Wahrscheinlichkeit angehoben. Noch bildet jedoch das „Basis-Szenario“ mit einer Wahrscheinlichkeit von 60% die Grundlage unserer Anlagenentscheidungen. Dabei gehen wir von einer globalen Stagflations-Tendenz aus, die sich aufgrund nachlassenden Wachstums und hohen Inflationsraten entwickeln könnte. Bereits vor der militärischen Eskalation des Russland-Ukraine-Konfliktes wurde die wirtschaftliche Erholung durch Lieferengpässe, hohe Energie- und Rohstoffkosten und unerwartet hohe Inflationsraten gebremst. Durch den Kriegsausbruch und den darauf folgenden Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland hat sich die Situation nochmals deutlich verschärft. Zum Einen belasten die höheren Energie- und Lebensmittelpreise die Kaufkraft der Verbraucher und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, zum Anderen führen Sorgen vor einer Ausweitung des Konfliktes sowie vor noch schärferen Sanktionen (v.a. im Energiesektor) zu einer deutlichen Stimmungseintrübung in der Wirtschaft und bei Konsumenten. Die anfänglichen Hoffnungen auf ein schnelles Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen haben sich verflüchtigt. Eine monatelange, wenn nicht jahrelange Krise scheint sich anzubahnen.
Zusätzlich belasten die aktuellen, umfangreichen Lockdown-Maßnahmen der chinesischen Regierung den chinesischen Wachstumsmotor, verbunden mit weiteren, negativen Auswirkungen auf die Lieferketten. Die europäische Politik ist damit mittelfristig einerseits auf die Reduzierung allzu großer Abhängigkeiten beim Bezug von Energie gerichtet, andererseits aber auch auf die Rückverlagerung der Produktion wichtiger Produkte nach Europa. Hierzu gehören z.B. Produkte der Halbleiter- und der pharmazeutischen Industrie. Die wohlstandsmehrende Globalisierung durch die kostengünstige Produktion in Niedriglohnländern wird damit zumindest teilweise wieder zurückgefahren.
Vor diesem Hintergrund gilt es, Über- oder Untergewichtungen der verschiedenen Anlageklassen neu zu überdenken. Die Assetklasse „Aktien“ wird von uns unverändert auf „Neutral“ eingestuft. Dabei achten wir allerdings auf ein „wetterfestes“ Portfolio mit einer stärkeren Gewichtung von Value-Investments. Das sind Unternehmen mit einer starken Marktposition, soliden Bilanzen und vergleichsweise geringer Verschuldung. Das Gewicht von Unternehmenssektoren mit rasantem Wachstum und entsprechend hohen Verschuldungsquoten, wie z.B. dem Technologiebereich, wird im Gegenzug eher reduziert. Zudem halten wir Investments in die Assetklasse der Rohstoff-, Edelmetall- und Immobilientitel sowie eine Cash-Quote in der Größenordnung von jeweils 10% bis 15% für sinnvoll. Gegenüber den USA sollte Europa untergewichtet werden, da hier die Auswirkungen des Ukrainekrieges ungleich stärker zu spüren sein werden, als in Nordamerika.
Im Anleihen-Segment werden die bisher untergewichteten Staatsanleihen aufgrund der starken Kursverluste in den vergangenen fünf Wochen auf neutral hochgestuft. Hier sehen wir Potenziale für eine Kurserholung. Inflationsanleihen werden dagegen leicht untergewichtet. Innerhalb der Unternehmensanleihen bevorzugen wir wegen der sich verschlechternden Wachstumsaussichten eher Qualitätstitel, d.h. Anleihen mit einem Rating von mindestens Investment Grade.