Eigentlich hat es Investoren in der Vergangenheit nicht so sehr interessiert, was die Politik treibt. „Politische Börsen haben kurze Beine“ – nach diesem Motto wurden zwar oft Wahlkämpfe verfolgt und beobachtet, Ergebnisse zur Kenntnis genommen, aber dann wurde auf den Börsenparketten schnell zur Tagesordnung übergegangen. Doch ebenso, wie die Börsenparkette im Präsenzhandel langsam ausgestorben sind, haben sich die Verhältnisse geändert. Die Bedeutung des Staates und damit der Politik hat sich mit den riesigen Rettungsprogrammen in Covid-19-Krisenzeiten dramatisch verstärkt. Und dies nicht nur in dirigistischen Staaten wie China. Deren Wirtschaftsmodell wurde nach dem Schock der Finanz- und Schuldenkrise 2008/2009 schon als Alternative diskutiert, aber dann doch für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung für nicht geeignet befunden. Auch in Baden-Württemberg sind die Zeiten vorbei, in denen es relativ egal war, wer unter dem jeweiligen Daimler-Chef Ministerpräsident geworden ist. Herren im Land waren die großen Arbeitgeber und Steuerzahler. Nach dem Dieselskandal und den eminenten Herausforderungen, die die neuen Klimaziele und der Paradigmenwechsel vom Verbrennungsmotor hin zu alternativen Antrieben mit sich bringen, stehen die Automobilkonzerne und andere Branchen mit dem Rücken zur Wand und blicken sorgenvoll auf jede neue Entwicklung und Forderung, die die Politik sich so einfallen lässt.
Für die USA, eigentlich ein Hort der Demokratie, gibt es aufgrund der längsten Aktienmarkt-Historie viele Untersuchungen, wie sich die Börsen in Wahljahren oder bei einem Sieg dieser oder jener Partei entwickelt haben. Diese müssen aber nicht zitiert werden, denn auch hier haben sich die Zeiten geändert. Ein unwürdiger US-Präsident spaltet das Land und findet keinerlei Rezepte, um die aktuellen Krisen des Landes (z. B. Rassismus, Covid-19, Klimastress) anzugehen. Dagegen steht ein Herausforderer, der zwar relativ blass erscheint, aber schon deshalb gute Chancen hat zu gewinnen, einfach weil er ein seriöser und vertrauenswürdiger Politiker ist.
Das erste Fernsehduell heute Nacht geriet zu einer Schlammschlacht, die sogar die negativen Erwartungen übertroffen hat – in den Augen altgedienter TV-Kommentaren war es das schlechteste TV-Duell aller Zeiten und eine Schande für die USA. Was bedeutet dies für die Finanzmärkte? Aktuell noch wenig, denn es kommen noch zwei weitere TV-Duelle, in denen sich der Amtsinhaber entweder ein bisschen normaler geriert oder endgültig desavouiert. Entschieden wird jedoch am Wahltag Anfang November und es wird spannend sein, ob der amtierende US-Präsident eine mögliche Niederlage akzeptiert. Zumindest garantiert er für diesen Fall keine friedliche Amtsübergabe und er forderte seine paramilitärischen Freunde im TV-Duell zwar auf zurückzutreten, sich aber bereitzuhalten. Was dieser Spruch bedeuten könnte, mag man sich im Falle eines knappen bzw. unklaren Wahlausganges nicht vorstellen. Denn landesweite Unruhen und bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe, die dann sehr wahrscheinlich wären, würden das zarte Pflänzchen der wirtschaftlichen Erholung in den USA empfindlich treffen und für große Unsicherheiten mit entsprechenden Kursschwankungen an den Finanzmärkten sorgen. Aktuell erholt sich die US-Wirtschaft weiter, wie das stark gestiegene Verbrauchervertrauen in den USA zeigt. Auch in Europa verbessern sich die Stimmungsindikatoren, die wie in Deutschland beim ifo-Geschäftsklimaindex nun auch deutlich verbesserte Lageindikatoren aufweisen. Eigentlich gute Vorgaben für die Finanzmärkte, die nach guten Nachrichten lechzen, insbesondere vor dem Hintergrund wieder steigender Covid-19-Infektionszahlen.
Somit hat die aktuelle Präsidentenwahl in den USA in diesen unsicheren Zeiten eine deutlich größere Bedeutung als früher. Mehr als 3.500 Unternehmen haben die US-Administration unter dem amtierenden Präsidenten verklagt, weil sie ihr eine unverhältnismäßige Verschärfung des Handelsstreits mit China vorwerfen. Denn es tritt nun das ein, wovor Wirtschaftsexperten von Anfang an gewarnt haben, nämlich dass vor allem US-Unternehmen unter diesen rigiden Maßnahmen leiden. Mittelfristig dürfte sich das Thema noch mehr als Bumerang herausstellen, da die Bestrebungen Chinas, sich mehr auf seinen Binnenmarkt zu konzentrieren und zunehmend unabhängig von ausländischen Importen zu werden, verstärken werden. Dies bedeutet auch, dass China dann viele Produkte und Technologien selbst herstellen wird und die US-Angebote links liegen lassen kann. Chinas Wirtschaft brummt zumindest nach den offiziellen Verlautbarungen wieder und könnte sich als Motor der Weltwirtschaft erweisen. Zusätzlich stabile politische Verhältnisse könnten bei gleichzeitiger Beherrschung der Covid-19-Pandemie und der Zulassung von geeigneten Impfstoffen für eine (zumindest kleine) Jahresendrally sorgen.