Die Marktmeinung aus Stuttgart

Völlig losgelöst

Stuttgart, 25. Mai 2021 - von Michael Beck

Wer hat diesen Refrain nicht im Ohr: „Völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff völlig schwerelos“ – ein zeitloser Megahit des Stuttgarters Peter Schilling, der viele Menschen immer noch begeistert. Wahrscheinlich weil sich diese Textzeile auf viele Bereiche des Lebens anwenden lässt. Zur Zeit mit Sicherheit auf manche Segmente der internationalen Börsenlandschaft. Einige Teilbereiche wie Kryptowährungen (z.B. Bitcoin oder Ethereum) oder neuartige Börsenemissionsvehikel, sog. SPACs, haben Kurentwicklungen vollzogen, die sich definitiv von allen zugrundeliegenden Bewertungsmechanismen losgelöst haben. So ganz schwerelos waren sie denn doch nicht, denn inzwischen haben viele dieser Kurse ihre stratosphärischen Umlaufbahnen verlassen und werden aktuell wieder auf ein normaleres Maß gestutzt.

Aber auch die breiten Aktienmärkte vermitteln den Eindruck, dass sie derzeit ein Eigenleben führen. Unbeeindruckt von fundamentalen Rahmenbedingungen und vor allem von geopolitischen Vorkommnissen schrauben sich die Aktienkurse in immer neue Rekordhöhen. Gerne werden Börsenregeln bemüht, um das Börsengeschehen zu kommentieren. „sell in may and go away“ war bisher die eher falsche, eher scheint sich die frohe Hoffnung an Pfingsten in dem Börsencredo „only the sky is the limit“ zu manifestieren.

Dabei ist die Resilienz der Börsenteilnehmer gegenüber negativen Nachrichten sehr erstaunlich. Schon der gewaltsame Ausbruch des Nahost-Konflikts in der letzten Woche nahm keinerlei Einfluss auf die Börsenkurse, auch steigende Ölpreise spielten keine Rolle. Und der beispiellose Eingriff staatlicher Stellen von Belarus in die europäische Luftsicherheit durch eine Militär-Jet-Aktion mit dem Ziel, einen Oppositionellen an Bord verhaften zu können, ließ die Finanzinvestoren ebenfalls unberührt. Dabei verschlechtert dieser Vorfall auch die Beziehung der EU zu Russland weiter, was zu einem weiteren Drehen an der Sanktionsschraube führen dürfte. Das Urvertrauen, dass doch immer eine Lösung gefunden wird und die beteiligten Protagonisten am Ende aller Tage schon zur Vernunft kommen werden, scheint sehr ausgeprägt zu sein.

Entgegen der Erwartung vieler Marktteilnehmer, Analysten und Wissenschaftler haben sich die Inflationsraten von ihren langjährigen Tiefständen gelöst und sich wieder über die Zielgrößen der Zentralbanken aufgeschwungen. Der damit verbundene zwischenzeitliche Anstieg der langfristigen Renditen ist jedoch wieder zum Erliegen gekommen, da die Finanzmärkte gerne bereit sind, das Interpretationsangebot der US-Notenbank Fed anzunehmen.

Zunächst hat die Fed bekundet, ein zwischenzeitliches Überschießen der Inflationsraten aufgrund der jahrelangen „Underperformance“ der Preissteigerungen zu tolerieren, zum anderen hat die Fed ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, dass das Inflationsthema nur ein vorübergehendes sein wird. So sind zwar alle einig, dass die Inflation in den nächsten Monaten kräftig steigen wird, aber aufgrund des vorübergehenden Charakters haken die Finanzakteure dies bereits ab. Die Bundesbank hält immerhin einen Anstieg der Inflationsrate auf 4% für möglich. Die Chancen einer anschließenden Rückkehr auf ein Normalmaß stehen nicht schlecht, da ein Gutteil der aktuellen Preissteigerungen starken Basiseffekten gegenüber den pandemieinduzierten Krisenszenarien vor einem Jahr geschuldet sind. Allerdings können die Auflösung des Konsumstaus zu hoher Nachfrage und damit Preissteigerungen im Konsumbereich führen. Zusätzlich bringen Knappheiten im Rohstoff-, Halbleiter- und Transportbereich weiteren Inflationsdruck. Entscheidend wird wohl sein, wie sich die Arbeitsmärkte bzw. die Arbeitskosten in den Covid-19-gebeutelten Volkswirtschaften entwickeln werden. Die vielbeachteten Einkaufsmanager-indizes zeigen jedenfalls in vielen Volkswirtschaften ein fulminantes Wirtschaftswachstum an. Es wird also in den nächsten Monaten an den Aktienmärkten ein Tauziehen zwischen den belastenden Inflations- und damit verbundenen Zinssteigerungstendenzen und den fördernden positiven Wirtschaftsentwicklungen und damit verbundenen Steigerungen der Unternehmensgewinne geben. Eigentlich müssten die Börsen demnächst in eine schläfrige Sommerruhe und damit in eine Seitwärtstendenz einschwenken. Aber die Zündstufen der Kursraketen sind immer noch mit viel Zentralbank-Liquidität gefüllt. So könnten sich noch viele Aktienkurse in der nächsten Zeit der Schwerkraft entziehen und neue (Rekord-)Sphären erreichen. Der Dax hat heute im Gefolge guter US-Vorgaben ein neues Allzeithoch markiert. Man sollte sich dennoch schon einmal gedanklich mit einem restriktiveren geldpolitischen Umfeld vertraut machen und sein Portfolio auf den einen oder anderen Stratosphärensturm vorbereiten.

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