Die Marktmeinung aus Stuttgart

Relativitätstheorie

Stuttgart, 09. Dezember 2020 - von Michael Beck

Bitte nicht erschrecken, hier wird nachfolgend weder die allgemeine noch die spezielle Relativitätstheorie besprochen. Auch wenn sich die Zeit in Lockdown-Zeiten doch sehr zu dehnen scheint. Aber gestern ist dem deutschen Physiker Reinhard Genzel, leider coronabedingt nicht wie sonst in Oslo, sondern in Deutschland an seinem Heimatort, der Nobelpreis für Physik verliehen worden. Sich in Einsteins und anderer deutscher Physikgrößen Fußstapfen bewegend, bekam der Forscher vom Max-Planck-Institut den Preis für den Nachweis, dass „schwarze Löcher“ nicht nur ein theoretisches Konstrukt sind, dessen Grundlagen Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie schuf, sondern tatsächlich existieren. Auch das weltweite Netzwerk von 200 Astronomen aus 13 Observatorien, die es geschafft haben, zum ersten Mal ein solches schwarzes Loch zu fotografieren, wurde vom Max-Planck-Institut in Bonn koordiniert.

Ein weiteres Beispiel deutscher Wissenschaftsexzellenz verdeutlichte die jüngst zu Ende gegangene internationale Polarexpedition „Polarstern“, die, angeführt von Markus Rex, Professor für Atmosphärenphysik am Kieler Alfred-Wegener-Institut, 300 Wissenschaftler aus 19 Nationen ein Jahr durch das Nordpolareis driften ließ, um wichtige Grundlagenforschung in Bezug zum fortschreitenden Klimawandel durchzuführen.

Dies alles zeigt, dass Innovationskraft und Wissenschaftskompetenz in Europa nach wie vor vertreten sind. Das ist auch dringend notwendig, denn hier kommt dann auch der Bezug zu den Finanzmärkten ins Spiel. Die Covid-19-Pandemie und ihre gravierenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft verstärken Trends der letzten Jahre und werden strukturelle Veränderungen beschleunigen. Die weltweite Konkurrenz schläft nicht, insbesondere in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) ist z. B. China in vielen Bereichen enteilt und hat damit die Covid-19-Pandemie in den Griff bekommen. Das hat natürlich auch mit Überwachung und anderen Vorstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu tun, die in Europa so nicht umsetzbar sind. Aber die Investitionen in diesen Bereichen, die China und die USA unternehmen, stellen diejenigen Europas deutlich in den Schatten. Noch kann der „alte Kontinent“ allerdings mithalten, wie auch die aktuelle Impfstoffforschung und ‑entwicklung zeigt. Das Tübinger Unternehmen Curevac entwickelte das neue mRNA-basierte Verfahren zur schnellen und günstigen Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Covid-19-Krankheit und das Mainzer Unternehmen Biontech hat nun als erste Biotech-Einheit einen geprüften Impfstoff vorgelegt, der alle notwendigen Studien-Stufen durchlaufen hat.

Darauf müssen Deutschland und Europa aufbauen, denn die Wissenschaftsfeindlichkeit und gegen internationale Kooperation vorgehende „America-First-Administration“ des abgewählten 45. US-Präsidenten haben dazu geführt, dass wieder vermehrt sehr erfolgversprechende Wissenschaftler/-innen zurück nach Deutschland und Europa gekommen sind. Für die Post-Covid-19-Zeit wird dies eine der Grundlagen sein, die europäische Wirtschaft wieder zu alter Stärke zu führen.

Wie bescheiden wir geworden sind, zeigt der gefeierte Optimismus der deutschen Maschinenbauer. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) verkündete, dass er damit rechne, das in 2020 die reale Produktion nicht um 17 %, sondern „nur“ um ‑14 % sinkt. Für 2021 rechnet der Verband nun mit einem Plus von 4 % anstatt der bisherigen 2 %. Die meisten Verbandsmitglieder rechnen damit, in 2022 wieder ihr Vor-Covid-19-Niveau zu erreichen.

Die deutsche Industrie produziert insgesamt im Oktober mit einem Plus von 3,20 % das sechste Mal in Folge mehr, allerdings in Relation zum Oktober 2019 fehlen immer noch 6,70 % Industrieproduktionsleistung. Da sich die Stimmungsindikatoren im November aufgrund der neuerlichen Lockdown-Maßnahmen eingetrübt haben, steht auch hier nicht zu erwarten, dass die Lücke bis zum Jahresende geschlossen werden kann.

Die Aktienmärkte lassen all die negativen aktuellen Wirtschaftsdaten kalt. Die Aussicht auf eine erfolgreiche Impfkampagne und die Chance auf die Überwindung der Covid-19-Pandemie lassen die meisten Investoren auf das zweite Halbjahr 2021 und danach schauen. Dann wird erwartet, dass die Konjunktur ihren großen Aufholprozess starten kann. Dies führt bereits zu einigen Übertreibungsphänomenen, wie der Kurs des US-Automobilbauers Tesla zeigt. In den letzten drei Monaten stieg der Kurs um 90 %, in 2020 hat er sich versiebenfacht (!). Die Marktkapitalisierung von ca. 600 Mrd. Euro ist größer als die der deutschen Autobauer zusammengenommen.

Es gibt noch weitere Beispiele von Aktien, die den Bezug zur Schwerkraft verloren haben und scheinbar masselos in höheren Kurs-Sphären schweben. Aber auch Aktionäre kennen das Phänomen schwarzer Löcher, wie jüngst Wirecard-Aktionäre leidvoll erfahren mussten. Im Gegensatz zur legendären Übertreibung der Dotcom-/Neue-Markt-Krise Anfang der 2000er-Jahre wird die Technologie-Hausse jedoch größtenteils von Unternehmen getrieben, die überaus hohe Gewinne mit starken Wachstumsaussichten aufweisen.

Die Sektor-Rotation, die in den letzten Wochen zu beobachten war und totgesagte Werte aus zyklischen Segmenten wieder zum Leben erweckt hat, dürfte sich in 2021 fortsetzen. Das dadurch erreichte relativ hohe Kursniveau muss sich allerdings gegen die aktuell deutlich verschlechternden fundamentalen Rahmenbedingungen behaupten. Die massive zweite Welle zwingt wohl auch Deutschland, dem Bespiel der angrenzenden Staaten zu folgen und dem nicht zielführenden Teil-Lockdown harte Lockdown-Maßnahmen folgen zu lassen. Mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung. Der Dezember wird spannend bleiben, insbesondere weil die Brexit-Verhandlungen endgültig zu scheitern drohen.

Die kleine Nordirland-Teileinigung in Bezug auf das internationale Recht brechende britische Binnenmarkt-Gesetz lässt die Hoffnung auf eine Last-Minute-Brexit-Einigung und eine Abbremsung der aufeinander zurasenden Züge EU und UK jedoch fortbestehen. Vielleicht besteht ja die Chance auf einen versöhnlichen Abschluss des sehr ungewöhnlichen Aktienjahres 2020.

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