Die Marktmeinung aus Stuttgart

Reife Leistung

Stuttgart, 10. Juni 2020 - von Michael Beck

Die Rekorde fallen derzeit wie die reifen Kirschen von den Bäumen. Dem schnellsten und stärksten Crash aller Zeiten folgte die schnellste und stärkste Erholung aller Zeiten. Ob die Abkoppelung der Börsenkurse von den (eigentlich) zugrundeliegenden Wirtschaftsdaten rekordverdächtig ist, kann nur gemutmaßt werden, dürfte aber der Fall sein. Die Aktieninvestoren sind irritiert, einer Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag der Fondsgesellschaft Union zufolge rechnen nur noch 13 % der Privatanleger mit einer Seitwärtsbewegung, der Rest teilt sich je zur Hälfte in Optimisten, die steigende, und Pessimisten, die sinkende Kurse erwarten, auf. Da haben es institutionelle Investoren leichter, die haben sich schon vor längerer Zeit für das Lager der Pessimisten entschieden. Mit der Folge, dass die meisten von ihnen diese exorbitante Erholungsrally verpasst haben und sich nun in die Märkte einschleichen müssen. Damit stützen sie das von ihnen nicht erwartete und eigentlich auch nicht akzeptierte Kursniveau.

Die Gründe für das fast schon als Kaufpanik zu bezeichnende Einkaufsverhalten der letzten beiden Wochen sind in mehreren positiven Nachrichten zu suchen. Zunächst verbesserte sich die Covid-19-Lage zusehends, die Neuansteckungen verharren trotz der Öffnungen auf niedrigem Niveau. Und für die EZB und die deutsche Große Koalition gilt: „Nicht kleckern, sondern klotzen.“ Die EZB hat ihr Anleihenkaufprogramm PEPP mit 600 Mrd. um 100 Mrd. Euro mehr als erwartet auf nunmehr 1,35 Billionen Euro aufgestockt.

Die Große Koalition hat in Berlin die Konjunkturkeule ausgepackt und bewilligt mit ca. 130 Mrd. € ebenfalls 30 Mrd. Euro mehr für ein riesiges Konjunkturpaket. Die Erkenntnis ist nun endgültig gereift, dass die „schwarze Null“ des Haushalts Vergangenheit ist. Überwiegend ist das Programm positiv aufgenommen worden, auch wenn die Mehrwertsteuerumstellung für eine halbes Jahr hohen Verwaltungsaufwand für die Wirtschaft bedeutet. Aus Sicht der Autoländer Baden-Württemberg, Bayern und NRW hat das Paket allerdings ein „Gschmäckle“ – der überaus wichtigen Autoindustrie wurden die Kaufprämien versagt, zumindest für jene Autos mit normalem Verbrennungsmotor, die immer noch die bedeutende Mehrheit der Konsumenten kaufen möchte. Unabhängig von der Tatsache, dass immer noch nicht klar ist, ob E-Autos eine bessere Öko-Bilanz aufweisen, und dass die dafür benötigte Infrastruktur immer noch nicht vorhanden ist, scheint der Gesetzgeber, vor allem die SPD, eine erzieherische Maßnahme verfolgen zu wollen. Doch was bringt eine Mehrwertsteuerabsenkung für Menschen, die kurz zuvor ihren Job verloren haben? Genau das könnte der Auto- und Zuliefererbranche drohen, wie das Beispiel ZF am Bodensee schon zeigt. Die SPD-Spitze lässt die Arbeitnehmer und Betriebsräte in der Automobilindustrie im Stich, wird dadurch aber keine einzige Stimme von den Grünen zurückgewinnen, sondern verprellt nur wieder einmal einige ihrer letzten Wähler. Dabei wäre ein Kompromiss so einfach gewesen, indem Kaufprämien für Konsumenten mit Normaleinkommen nur für kleinere Autos mit weniger Schadstoffausstoß oder gestaffelt nach diesen Kriterien vereinbart worden wären. Es hätte wohl jeder verstanden, wenn z. B. spritfressende, tonnenschwere SUVs nicht in die zu fördernde Produktklasse aufgenommen worden wären.

Ein weiterer Grund für die positive Kursentwicklung am letzten Freitag dürfte in Short-Eindeckungen von Investoren liegen, die katastrophale Arbeitsmarktdaten in den USA erwarteten und auf fallende Kurse setzten. Die letzten vier Wochen wurden regelmäßig Neuanträge auf Arbeitslosenunterstützung im Millionenbereich gemeldet. Da war es tatsächlich eine Sensation, dass am Freitag dann für den Mai ein Zuwachs von mehr als 2 Millionen Stellen gemeldet wurde. Ein Kurssprung an den Börsen weltweit war die Folge.

Man war schon geneigt, an chinesische Verhältnisse zu glauben und sich zu fragen, wie diese Zahlen so weit auseinanderliegen können, die der 45. US-Präsident flugs für sich vereinnahmen zu können glaubte. Die US-Behörde, die für die Erhebung des Datenmaterials zuständig ist, lieferte die Lösung gleich mit. Durch fehlerhafte Befragungen wurde die Arbeitslosenquote im April (16,3 statt 13,3) und Mai (19,7 statt 16,7) um jeweils 3 Prozent zu niedrig ausgewiesen. Dafür, dass weltweit an den Börsen eine Kaufpanik entstand und sich viele Investoren in einem waschechten Short Squeeze wiederfanden, eine sehr peinliche Angelegenheit.

Die Unfähigkeit des 45. US-Präsidenten, seinen Job in der Pandemie- und Rassismus-Krise in den USA anständig auszufüllen, lässt ihn ironischerweise derzeit ein Ziel erfüllen, das er seit längerem verfolgt: die Schwächung des US-Dollar. Hinzu kommt, dass Europa auf dem Weg der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und der daraus folgenden Wirtschaftskrise weiter vorangeschritten ist. Als Folge haben Investoren aus Großbritannien und den USA ihre Europa-Untergewichtung abgebaut und die Kapitalströme wieder nach Europa gelenkt. Dies führt zu einem stetigen Anstieg des Euro zum Greenback. Solange die europaimmanenten Probleme, wie die festgefahrenen Brexit-Verhandlungen, die Verschuldungssituationen insbesondere der südlichen EU-Länder oder die desaströsen Wirtschaftsdaten in der EU in der Wahrnehmung der Investoren keine Rolle spielen, dürfte das derzeitige Kursniveau unterstützt bleiben. Eine defensivere Ausrichtung in der Anlagestrategie bleibt jedoch Gebot der Stunde, denn Stimmungen, insbesondere an den Börsen, können schlagartig kippen.

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