Die Marktmeinung aus Stuttgart

Geeintes und gespaltenes Europa

Stuttgart, 22. Juli 2020 - von Michael Beck

Was war das für ein zähes Ringen auf diesem letzten EU-Gipfel. Fast wäre der Jahrzehnte alte Verhandlungsmarathon-Rekord gebrochen worden. Aber dann kam doch die Einigung nach nächtelangen Diskussionen der 27 Regierungschefs/-chefinnen und ein starkes Zeichen der europäischen Solidarität zustande. Viele Milliarden werden fließen, 390 Mrd. € als Zuschüsse, d. h. quasi als Geschenke vor allem an die am meisten belasteten Südstaaten (40 %), und 360 Mrd. € als Kredite, die dereinst bis 2058 zurückzuzahlen sind. Die Sensation dabei ist nicht die Höhe des Fördertopfes, sondern dass die insgesamt 750 Mrd. Euro von der EU zum ersten Mal gemeinsam als Schulden aufgenommen werden. Dies kann durchaus als Startpunkt in eine Transfer- und Schuldenunion bezeichnet werden. Kein Wunder, dass die „sparsamen 5“ (Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland) lange dafür gekämpft haben, um das Verhältnis Geschenke zu Krediten verträglicher zu gestalten. Anstatt der 500 Mrd. € sind es nun 390 Mrd. geworden. Wobei sich die Frage stellt, warum sich die südlichen Staaten so vehement gegen Hilfen in Form von Krediten gestemmt haben. Da die EU mit der besten Bonität als Schuldner auftritt, werden diese Kredite aktuell quasi zum Nullzins zu haben sein. Und aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre, z. B. auch in Italien während der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, wird kaum damit zu rechnen sein, dass die Gratismittel wirklich zukunftsgerichtet und planvoll eingesetzt werden. Die Befürchtung des österreichischen Bundeskanzlers Kurz, dass die Gefahr besteht, dass die Mittel alle versanden werden, ist nicht von der Hand zu weisen.

Dabei wird auch sein Land von der Einigung profitieren. Im Gegenzug zur Zustimmung gab es Rabatte für die EU-Beiträge und einige Mittel werden auch ins Land fließen. Die deutsche Kanzlerin hat sich vor dem Gipfel im Verbund mit dem französischen Präsidenten Macron als Sparkommissarin verabschiedet, wohl auch weil sie weiß, dass es für Deutschland eminent wichtig ist, dass Europas Wirtschaft wieder in Schwung kommt. Mehr als 60 % der deutschen Exporte gehen in die europäischen Freundesstaaten. Allerdings wird die Vormachtstellung Deutschlands und Frankreichs nicht mehr so leicht akzeptiert. Und viel schwerer wirken die tiefen Gräben, die in den vier Tagen und Nächten offenbar wurden. Es wurde sogar kolportiert, dass zwischen Vertretern von nord- und südeuropäischen Staaten „Hass“ herrsche. Osteuropäische Länder wie Ungarn und Polen haben nun offen zugegeben, dass sie mit dem Institut der „Rechtsstaatlichkeit“ so große Probleme haben, dass die strikte Einhaltung dieser Bedingung nicht im Kriterienkatalog von Geldzuwendungen auftauchen darf. Auch wenn von vielen diese Einigung als „historisch“ und „wegweisend“ bezeichnet wird, darf man sich vor diesem Hintergrund doch Sorgen um den künftigen Zusammenhalt der EU machen. Im besten Falle wird dieser Gipfel der Startschuss für die „Vereinigten Staaten von Europa“ sein. Dann wären die Geldmittel letztendlich doch sinnvoll eingesetzt.

Die Finanzmärkte zumindest bejubelten das Paket und hievten die europäischen Aktienindizes fast wieder auf die Höhe der Stände vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie, als die Welt noch in Ordnung war. Zusätzlich beflügelte die Hoffnung auf wirksame Impfstoffe den Optimismus der Investoren.

„Nach Impfstoff drängt. Am Impfstoff hängt doch alles. Ach wir Armen!“ Zur Goethezeit kämpften die Menschen mit Krankheiten, die weder bekannt waren noch behandelt werden konnten, und starben aus Gründen, die heute sehr leicht behandelbar sind. Das neuartige Covid-19-Virus, das die Wissenschaft immer noch vor Rätsel und Herausforderungen stellt, verändert die Welt und beeinträchtigt immer noch die Wirtschaftsleistung der gesamten Welt.

Beispiele wie Israel, das mitten in einer zweiten Ansteckungswelle steht, oder New York, das diese zweite Welle nach den schrecklichen Erfahrungen der ersten Welle mit drastischen Mitteln, z. B. Quarantäne-Regelungen und massiven Beschränkungen für Aktivitäten in geschlossenen Räumen, zu vermeiden sucht, zeigen dies. Das kann nicht spurlos an der Wirtschaftsleistung vorübergehen. Die Finanzmärkte haben aufgrund vielversprechender erster Tests und klinischer Studien die Entwicklung wirksamer Impfstoffe eingepreist. Die Biotech- und Pharmabranche gehörte zu den Pfeilern während des „Corona-Crashs“ und in der Tat sind die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten dieser Zunft noch nie so groß gewesen wie heute. Aber ohne Impfstoff werden die Gesellschaften und Volkswirtschaften noch lange Zeit beschränkt bleiben und Vorkrisenniveaus nicht erreichen können. Analystenschätzungen gehen davon aus, dass Unternehmen in 2020 im Durchschnitt 40–45 % weniger Gewinne erwirtschaften werden. Sollte es nicht möglich sein, den Vorkrisenstand wieder zu erreichen, was nur mit Impfstoffen oder eventuell in vielen Jahren durch Erreichung einer Art „Herdenimmunität“ möglich ist, kann man sich leicht ausrechnen, dass die aktuelle Bewertung der Aktienmärkte nicht haltbar sein wird. Aber nicht nur aus monetären Gründen steht zu wünschen, dass es den Medizinern und Wissenschaftlern gelingen wird, wirksame Medikamente oder Impfstoffe gegen das Covid-19-Virus zu entwickeln. Denn wer weiß, vielleicht helfen die neue Aufmerksamkeit, die neuen Entwicklungsmethoden und die gigantische Ausstattung mit Forschungsmitteln, auch für bisher nicht behandelbare Krankheiten Medikamente bzw. Impfstoffe zu entwickeln.

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