Auch wenn es sich noch kaum jemand eingestehen mag – die Covid-19-Pandemie droht außer Kontrolle zu geraten. In vielen uns angrenzenden Ländern wie Belgien, Tschechien, Polen oder Frankreich ist das wohl schon der Fall. In Deutschland kann man Tag für Tag in Zeitlupe betrachten, wie sich die Pandemielage diesem Kontrollverlust nähert. Innerhalb einer Woche verdoppelten sich die Ansteckungszahlen nahezu von knapp 4.000 auf nunmehr 7.600 innerhalb eines Tages. Als die Neuansteckungszahlen im Sommer niedrig waren, verbreitete sich die Meinung, dass ein flächendeckender Lockdown nicht mehr in Frage kommen würde. Viele Unternehmen, Geschäfte oder Behörden haben entsprechende Hygienekonzepte und Arbeitszeitmodelle eingeführt, die ein relativ sicheres Arbeiten ermöglichen. Allerdings hat die Hoffnung getrogen, dass eine regionale Behandlung und Eindämmung diverser Hotspots genügen würde, um die flächendeckende Ausbreitung zu verhindern. Die moderaten Ansteckungszahlen während der Sommermonate kamen sukzessive durch die Wiedereinschleppung des Virus durch Reiserückkehrer unter Druck. Und wer dachte, dass eine breite Schulöffnung nicht dazu beitragen würde, dass das Pandemiegeschehen in viele Familien und in die Fläche getragen wird, sieht sich wohl auch getäuscht. Das Vertrauen darauf, dass hierzulande noch viele freie Intensivbetten vorhanden sind, dürfte vor dem Hintergrund vieler Beispiele von Ländern verpuffen, die im Pandemie-Geschehen schon etwas voraus sind und erste Notstände, insbesondere durch Personalmangel hervorgerufen, in ihren jeweiligen Gesundheitswesen zu verzeichnen haben.
So bewahrheitet es sich, dass wir bis zur Genehmigung von geeigneten Impfstoffen mit diesem Virus und den dadurch hervorgerufenen Einschränkungen leben müssen. Mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung. Das ist z. B. insbesondere für jene Gastronomen und Hoteliers bitter, die keinen Aufwand gescheut haben, für einen sicheren Restaurantbetrieb Hygienekonzepte und Maßnahmen zu installieren. Nur um festzustellen, dass aus dem Ruder gelaufene private Festivitäten und illegale Partys bei einem kleinen Teil von weniger verantwortungsvollen Kollegen zu einem Infektionsgeschehen führen, das sie, wie in Berchtesgaden zu beobachten, in Sippenhaft nimmt.
Die Finanzmärkte bewegen sich derzeit noch im Spannungsfeld zwischen der Hoffnung auf die Entwicklung wirksamer Impfstoffe sowie weiterer wirtschaftlicher Erholung, wie sie vereinzelte Wirtschaftsdaten und Unternehmensausweise andeuten, und der Bedrohung durch erneute Lockdown-Maßnahmen, die zwar noch nicht in der Fläche, aber doch in sehr vielen regionalen Hotspots drohen. Und leider ist es keine ausgemachte Sache, dass es bei regionalen Maßnahmen bleibt, wie die Beispiele Irland, Berchtesgaden oder nun auch die spanische Region Navarra zeigen. Irland hat vor dem exponentiellen Anstieg der Covid-19-Fallzahlen kapituliert und einen erneuten Lockdown von sechs Wochen ausgerufen. Es wird ein Lockdown-Flickenteppich in Europa entstehen, und je dichter dieser gewebt sein wird, desto enger wird es für die Aktienmärkte werden. Die Suche nach sicheren Häfen ist bereits im Gange, wie die 14-fache Überzeichnung der neuen „Social-Bonds-Anleihe“ zur Finanzierung von Kurzarbeitergeld und Arbeitsmarktmaßnahmen der EU verdeutlicht. 233 Mrd. Euro hätten an den Märkten platziert werden können, und dies für 10 Jahre Laufzeit mit einem Zinskupon von 0 % und einer Rendite von –0,238 % pro Jahr. Ein schöner Vertrauensbeweis für die EU als Emittent dieses neuen Rentenmarktsegmentes, aber auch ein Beleg für die tiefe Verunsicherung und Risikoaversion vieler Investoren.
In Großbritannien scheint die Pandemie-Lage kaum besser zu sein. Umso unverständlicher ist es, dass der britische Premier unter die Vabanque-Spieler gegangen ist und ein Scheitern der Brexit-Verhandlungen mit der EU in Kauf nimmt, ja gar, wie es scheint, provozieren will.
Die Kontrolle über den Fortgang der Dinge hat er wohl schon längst verloren. Er hat den Gesetzesentwurf Nordirland betreffend, der internationales Recht bricht, nicht zurücknehmen lassen und wird hier nur vom Oberhaus ausgebremst, das dieses Gesetz blockiert. Zusätzlich hat er bereits 200.000 Unternehmen und Händlern einen Brief geschrieben, in dem er sie auffordert, Vorkehrungen für den Fall eines „No-Deal-Brexit“ zu treffen. Erstaunlich, dass die EU nach wie vor bereit ist, mit diesem Premier zu verhandeln. Die nächsten drei Wochen werden hier wohl Klarheit bringen.
Der dritte große Bremsklotz, der sich jeglicher Kontrolle entzieht und die internationalen Aktienmärkte aktuell deckelt, ist die US-Präsidentschaftswahl. Zwar vergrößert sich der Vorsprung des Herausforderers Joe Biden in den Umfragen stetig, und auch die größte Zeitung des Landes „USA today“ hat nun erstmals in ihrer Geschichte eine Wahlempfehlung (für Biden) ausgesprochen, aber das spezielle Wahlsystem der USA lässt es nach wie vor nicht zu, einen deutlichen Favoriten auszumachen. Zu festgefahren sind die jeweiligen politischen Positionen in der Bevölkerung. Erleichterung wird an den Aktienmärkten erst einkehren, wenn in der Wahlnacht eine klare Wahlentscheidung feststeht, egal, welche Seite gewinnt. Ein knappes Ergebnis oder die Anfechtung der Wahl durch einen möglicherweise knapp geschlagenen Amtsinhaber, über den die republikanische Partei schon längst die Kontrolle verloren hat, würde nicht nur die US-Bevölkerung, sondern auch die Finanzmärkte in erhebliche Unruhe versetzen. Die Straßen hätte dann wohl keiner mehr unter Kontrolle.
Die relative Schwäche der Aktienmärkte in den letzten Tagen hat also ihre Gründe. Daher ist es zu empfehlen, in den nächsten Wochen eine eher defensive Grundhaltung an den Märkten beizubehalten. Größere Korrekturen dürften aber für langfristig ausgerichtete Investoren Einstiegsmöglichkeiten darstellen, denn irgendwann ist Großbritannien, egal wie auch immer, aus der EU ausgeschieden und sich selbst überlassen und ebenso wird irgendwann ein US-Präsident gekürt werden und relativ wahrscheinlich wird auch irgendwann das Pandemiegeschehen hinter uns liegen. Wenn diese drei Parameter eingetreten sein werden, dürfte es für einen Einstieg zu spät sein. Es ist gut zu wissen, dass innerhalb einer stringenten, weltweit diversifizierten Investmentstrategie Kontrollverlust vermeidbar ist.