Seit über zehn Jahren, quasi seit dem Ende der Finanz- und Schuldenkrise 2008/2009, werden sogenannten Value-Aktien Chancen zugesprochen. Dabei handelt es sich um relativ niedrig bewertete Aktienwerte, die zwar nicht mit übermäßig hohen Wachstumsraten glänzen können, dafür aber eine relativ stabile Gewinn- bzw. Dividendenpolitik aufweisen. Diese Werte gehören gerne eher „alten Branchen“ wie dem Industrie-, Versorgungs- oder Bankensektor an. Aber lange Zeit bewahrheitete sich eine alte Börsenregel, denn die sowieso schon billigen Werte wurden immer noch billiger. Die Underperformance-Charts dieser „Value“-Werte beschrieben das Leiden vieler Investoren und Fondsmanager, die für ihre Kunden eher Werte vernichteten als schufen.
Nun sorgt die anstehende wirtschaftliche Erholung für den Start einer seit Jahren erwarteten Sektor-Rotation. Dazu trägt bei, dass viele Werte aus dem „Growth-Sektor“ (i. d. R. Technologie, Biotech etc.), die sehr schnell gewachsenen sind und üblicherweise über hohe Verschuldungsquoten verfügen, durch ihre jahrelangen Kursanstiege teils sehr hohe, verwundbare Bewertungsniveaus aufweisen. Diese hohe Bewertung wird nun von zwei Seiten in die Zange genommen. Zum einen wird den „Value“-Werten als meist zyklischen Titeln eine größere Erfolgspartizipation an der vor uns stehenden starken Konjunkturerholung (sofern die Impfkampagne erfolgreicher wird) zugesprochen.
Zum anderen kommen die hohen Bewertungen vieler hoch finanzierter Tech-Unternehmen durch die jüngsten Zins- und Inflationsanstiegsängste unter Druck, wie die letzten drei Wochen zeigten.
Auch schon in der Vergangenheit gab es Phasen, in denen „Value“-Werte durchstarten hätten können, allein die Investitionsströme liefen in andere Bereiche. Aber dies ist jetzt anders. Zum ersten Mal seit Jahren vermelden große Investoren, dass sie den „Value“-Sektor gegenüber den „Growth“-Werten übergewichten. Das Schöne für Aktieninvestoren ist dabei der Umstand, dass die von „Growth“-Titeln in der Vergangenheit erworbenen Meriten durch den Fortschritt der Digitalisierung Bestand haben werden. Im Gegensatz zur Dotcom-Krise Anfang der 2000er-Jahre sind die Kursanstiege der letzten Jahre durch starkes Unternehmens- und Gewinnwachstum unterlegt, sodass außer bei einigen wenigen Übertreibungen, bei denen z. B. Kleininvestoren Kurse in abstruse Höhen rotieren lassen, nicht zu erwarten ist, dass aufgrund der Sektor-Rotation die Kursniveaus des Growth-Bereiches implodieren, sondern dass sie im Grunde in eine gesunde Korrektur und Seitwärtsbewegung einschwenken. Wenn dann zusätzlich die lange zurückgebliebenen „Value“-Werte in Fahrt kommen, führt das zu einem Ergebnis, das Investoren durchaus gefällt: ein Rekordstand großer internationaler Aktienindizes nach dem anderen.
Ob diese Kursrotation in einem links- oder rechtsdrehenden Strudel stattfindet, je nachdem ob die Corioliskraft die Aktienmärkte auf der Nord- oder Südhalbkugel ewig nach oben zieht, darf jedoch bezweifelt werden. Die meisten Aktienmarktinvestoren weisen einen immer stringenteren Tunnelblick durch die Krise auf und legen sich immer mehr darauf fest, dass eine sehr starke Konjunkturerholung vor der Tür steht. Aufgrund der holprigen Impfkampagne verzögert sich dieser Umstand jedoch von Lockdown zu Lockdown. Insbesondere der private Konsum hat im vierten Quartal 2020 und nun auch im ersten Quartal diesen Jahres die Wirtschaftsentwicklung in der EU stark gebremst.
So steht zu hoffen, dass die aktuellen Lockerungen aufgrund einer dadurch entstehenden dritten Welle nicht zu erneuten Lockdown-Maßnahmen führen. Mut machen die Prognosen, dass die Impfstoff-Lieferungen im zweiten Quartal massiv an Schwung gewinnen. Wenn dann noch die bestehende Impfstruktur des Hausarztsystems genutzt wird, könnte noch während des zweiten Quartals ein Impfstand in der Bevölkerung erreicht werden, der umfangreiche Öffnungen der geschlossenen Wirtschaftssektoren wie Gastronomie, Hotelgewerbe, Messe- und Kultureinrichtungen erlaubt. Vielleicht kehrt dann generell auch wieder ein größerer Optimismus ein. Die Impfkampagne zeigt zwar Schwächen, aber wie die Logistik der Impfzentren auch unter der Mithilfe vieler ehrenamtlicher Helfer aufgebaut wurde, ist aller Ehren wert. Viele Kritiker, gerne auch jene, die in dieser Krise weder mithelfen noch Verantwortung übernehmen, tragen derzeit dazu bei, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung eintrübt, was die Zustimmung zu den Pandemiebekämpfungsmaßnahmen bröckeln lässt.
Die Stimmung der Aktieninvestoren hellt sich dagegen immer weiter auf. Das vom Analysehaus Sentix veröffentlichte Stimmungsbarometer stieg auf den höchsten Stand seit einem Jahr, wobei sich insbesondere die Lagekomponente verbesserte, während die Erwartungskomponente stabil blieb. Auch hier steht die Erwartung im Vordergrund, dass die Impfkampagne erfolgreich sein wird. Dabei auf Impfrankings und Vergleiche mit Ländern wie Israel, das aktuell von Chile als „erfolgreichstem“ Impfland abgelöst wurde, zu schauen, ist wenig hilfreich. In Israel erhielten bisher ca. 5 Mio. Menschen ihre erste Impfung (von 9 Millionen Einwohnern), in Chile 4 Mio. von 19 Millionen Einwohnern. Zwar mögen die prozentualen und Pro-100-Einwohner-Anteile an der Bevölkerung in diesen Ländern deutlich höher sein. Der Blick auf die aktuellen absoluten Zahlen lohnt sich jedenfalls, denn die 5,4 Millionen Menschen in Deutschland, die bereits ihre erste Impfdosis erhalten haben, zeigen doch ein vorzeigbares Bild. Die ansteigenden Impfstoff-Liefermengen werden dieses Bild schnell verbessern helfen, was dazu führt, dass die Finanzmärkte klar auf Optimismus setzen. Und das sollten auch in Deutschland mehr Menschen tun.