Die Marktmeinung aus Stuttgart

Das zweite Bein

Stuttgart, 28. Oktober 2020 - von Michael Beck

„Auf einem Bein kann man nicht stehen“ – eine Regel, an die sich wohl viele Menschen im Urlaub, bei privaten Feiern und Hochzeiten und illegalen Clubpartys nicht nur in den Großstädten über die Gebühr gehalten haben. In normalen Zeiten ist dagegen auch nichts einzuwenden, inmitten einer gefährlichen Pandemiephase jedoch rächt sich dieses sorglose Verhalten. Die durch das Covid-19-Virus verursachten Infektions- und leider auch Todeszahlen steigen rasant in die Höhe, nicht nur bei unseren europäischen Nachbarn, sondern nun auch bei uns in Deutschland. Und das leider so flächendeckend, dass damit gerechnet werden muss, dass die Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten auch mit Hilfe der Bundeswehr nicht mehr leistbar ist. Unmittelbare Folge sind immer mehr „Lockdown“-Maßnahmen in Europa, auch wenn verzweifelt versucht wird, die Maßnahmen auf ein notwendiges Mindestmaß zu beschränken. Inwieweit es der Wirtschaft hilft, dass in Italien im Gegensatz zum März die Museen geöffnet bleiben, aber die Gastronomie wieder drastisch in den Öffnungszeiten beschränkt wird, bleibt abzuwarten. Die Bundesregierung wird heute angesichts der hohen Infektionszahlen über verschärfte Maßnahmen mit einer neuen Sprachregelung, dem „Lockdown light“, befinden. Auch wenn sich das nicht so schlimm anhört wie ein generelles Herunterfahren des öffentlichen Lebens, so dürfte die Hoffnung auf eine Beschränkung auf regionale Lockdown-Maßnahmen enttäuscht werden. Diese negative Entwicklung findet bereits ihren ersten Niederschlag in Wirtschaftsindikatoren, wie dem Einkaufsmanagerindex für Europa, der nun wieder unter die Wachstumsschwelle von 50 Punkten gesunken ist.

Auch der vielbeachtete ifo-Geschäftsklimaindex, der die Befragung von ca. 9.000 Unternehmen repräsentiert, hat etwas nachgegeben. Hierbei ist eine Spreizung der Ergebnisse zu erkennen. Während die Industriewerte stabil bleiben, gaben die Werte aus dem Dienstleistungssektor nach. Das verwundert auch nicht, denn dort sind die Auswirkungen der verschärften Einschränkungen aufgrund der rasant steigenden Covid-19-Infektionen unmittelbar spürbar. Aber auch die Befragung des ifo-Institutes von 2.300 Industrie-Unternehmen für den Exportsektor ließ das ifo-Exportbarometer deutlich von 10,3 auf 6,6 Punkte fallen.

Auf europäischer Ebene treten die rezessiven Tendenzen noch deutlicher zutage. Auch weil das Infektionsgeschehen und die Einschränkungen deutlich ausgeprägter sind. Frankreich muss sich noch zusätzlich mit dem in seinem Land mit dem Rücken zur Wand stehenden und jedes Maß verlierenden Präsidenten Erdogan beschäftigen. Da scheint ihm jedes Mittel recht, für Ablenkung zu sorgen. Die entschlossene Reaktion des französischen Präsidenten Macron auf die brutale Ermordung und Enthauptung eines französischen Lehrers auf offener Straße, islamistische Umtriebe nun unnachgiebig zu bekämpfen und für Meinungsfreiheit einzutreten, veranlasst den türkischen Präsidenten, zum Boykott französischer Produkte aufzurufen. Dieser neueste Versuch, außenpolitische Konfrontation zu nutzen, um von eklatanten wirtschaftlichen Problemen im Land abzulenken, funktioniert wohl nicht. Der Kurs der türkischen Lira durchbrach zum ersten Mal die Schallmauer von 8 Lira/USD und sinkt weiter, was die Inflation und die Probleme der Bevölkerung in der Türkei weiter befeuern dürfte.

Die internationalen Aktienmärkte, die wie das Kaninchen vor der Schlange auf die US-Wahl starren und viele andere Probleme weitgehend ignorierten, geraten nun angesichts der neuerlichen Pandemie-Verschärfung doch in Unruhe. Nach dem historischen Kurssturz vom März dieses Jahres mit über 40 % erwarteten die meisten Investoren nach der Aufholung der Hälfte des Verlustes einen zweiten Abverkauf. Wie meist in der Vergangenheit sollte sich ein „zweites Bein“ in den Indexverläufen herausbilden und nach einer ordentlichen Bodenbildung zu einer nachhaltigen Erholung ansetzen.

Diese Entwicklung blieb allerdings aus und die stetig steigenden Aktienmärkte bewiesen, dass man auf einem Bein stehen kann. Zumindest eine Zeitlang, denn nun wird sich zeigen, ob das Bein nicht doch überanstrengt wird und zitternd nachgibt. Noch ist keine ausgeprägte Verkaufswelle zu sehen, aber die Notierungen bröckeln vor sich hin. Bis zur US-Wahl möchten sich wenige Investoren positionieren. In der Tat sind die Bilder von schwer bewaffneten Milizen erschreckend, die ahnen lassen, was auf den Straßen der großen Städte entfesselt werden könnte, wenn der amtierende US-Präsident eine knappe Niederlage nicht anerkennt. Jüngste Umfragen in den wichtigen Swing-Staaten deuten einen wachsenden Vorsprung des Herausforderers Joe Biden an, sodass gute Chancen bestehen, dass bereits am Wahlabend eine klare Entscheidung feststeht, an der auch der 45. US-Präsident nicht rütteln kann. Sollte es zu einer klaren Entscheidung, egal für wen, am Wahlabend kommen, ist das erste Bein einer Erleichterungswelle fest auf dem Boden verankert. Das zweite Bein käme hinzu, wenn in den nächsten Wochen die erfolgreiche Entwicklung eines oder mehrerer Impfstoffe gemeldet würde. Wenn diese beiden Faktoren eintreten, dürfte selbst das irrationale Verhalten des britischen Premiers und ein möglicher ungeregelter Brexit die Aktienmärkte kaum stören, da für diesen Fall notwendige kurzfristige Übergangsmaßnahmen erwartet werden. Aber bis dahin werden die Investoren in eher ungemütlichem Herbstwetter voranschreiten müssen.

Hinweise:

Die vorliegenden Informationen sind keine Finanzanalyse im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes und genügen nicht allen gesetzlichen Anforderungen zur Gewährleistung der Unvoreingenommenheit von Finanzanalysen und unterliegen nicht einem Verbot des Handels vor der Veröffentlichung von Finanzanalysen.