Die Marktmeinung aus Stuttgart

Bröckelndes Empire

Stuttgart, 10. Februar 2021 - von Michael Beck

Die durch den Brexit verursachten Probleme haben schon seit längerem in Schottland und seit neustem in Nordirland immer mehr Menschen zum Nachdenken gebracht. Zwar scheint es für Großbritannien kurzfristig z. B. bei der Impfstoffbeschaffung gegen die Covid-19-Pandemie ein Vorteil zu sein, nicht mehr zur EU zu gehören, ob die Strategie, zunächst nur einmal zu impfen, aber aufgehen wird, muss die Zeit zeigen. Darüber hinaus sind nur sehr wenige Vorteile aus dem Brexit zu erkennen. Die universitäre Welt weint beispielsweise dem Erasmus-Programm hinterher. Eigentlich hatte Premier Johnson versprochen, dass das Programm auch nach dem Brexit weiterlaufen würde. Nun musste er erklären, dass es zu teuer sei, um es weiterzuführen. So geht es mit vielen Versprechungen und teils groben Unwahrheiten, die nun enttäuscht bzw. ans Tageslicht kommen. Die britischen Fischer bleiben auf ihren Fischen sitzen und die bürokratischen Zoll-Probleme sorgen für lange LKW-Staus und weitere Exportrückgänge. Im Januar sind die UK-Exporte in die EU um 68 % (!) eingebrochen. Auch wenn sich das mit der Zeit einpendeln dürfte, werden der höhere Aufwand und die damit verbundenen Kosten bleiben. In Schottland und neuerdings auch in Nordirland plädiert inzwischen eine Mehrheit für ein Referendum zur Abspaltung vom United Kingdom. Es wird spannend sein, zu beobachten, wie lange sich der britische Premier verweigern und seine Probleme beherrschen kann. Bis dahin wird in der Finanzindustrie auch der Exodus an verwalteten Assets von der Londoner City auf den Kontinent weitergehen.

Aber Regierungsprobleme sind auch auf dem Kontinent virulent – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Vertrauen vieler Bürger in das Krisenmanagement vieler Regierungen nimmt ab. Die Aktienmärkte setzen nach wie vor auf eine starke wirtschaftliche Erholung spätestens ab dem zweiten Quartal diesen Jahres. Zumindest deutet der aktuelle OECD-Frühindikator darauf hin, dass die meisten großen Volkswirtschaften vor einer konjunkturellen Erholung stehen. Hierfür ist Voraussetzung, dass die Impfkampagnen in den EU-Ländern, aber auch weltweit in Schwung kommen. In Italien versucht derzeit der Retter des Euro, Mario Draghi, nun auch sein Land zu retten, indem er eine Expertenregierung aufstellt. Dies hat einer seiner Vorgänger, Mario Monti, auch schon versucht, ist aber nach kurzer Zeit gescheitert.

Auch der neue US-Präsident Joe Biden hat vor, das durch die kontraproduktive, nationalistische Politik seines Vorgängers ins Hintertreffen geratene US-Empire zu retten. Nachdem das dunkle Empire des Darth Donald endlich vorüber ist, setzt Biden alles daran, ein gigantisches Konjunkturstützungspaket in Höhe von 1,9 Billionen (1.900 Milliarden!) USD auf den Weg zu bringen. Damit die dunkle Macht auch nach den nächsten vier Jahren nichts mehr zu sagen hat, wurde gestern das zweite Amtsenthebungsverfahren gegen den 45. US-Präsidenten lanciert – sogar mit sechs Stimmen der Republikanischen Partei. Leider braucht es insgesamt 17 republikanische Stimmen, um das Verfahren zu einem Erfolg zu bringen. Dies wird zu einem Lackmustest für die Republikanische Partei, die sich entscheiden muss, ob sie zur demokratischen US-Verfassung steht oder dem rechtspopulistischen und demokratie- und institutionenfeindlichen Einfluss des abgewählten 45. US-Präsidenten nachgeben will. Die Aktienmärkte profitieren zumindest seit geraumer Zeit von den Verhandlungsfortschritten und dem optimistisch belegten Start des neuen US-Präsidenten und setzen eine Rekordmarke nach der anderen.

Und dies sogar auch in Europa, obwohl die wichtigsten europäischen Volkswirtschaften drauf und dran sind, den internationalen Impfwettlauf zu verlieren. Das strahlende Export-Empire Deutschland bekommt Risse, und das nicht zuletzt auch aufgrund des drohenden Bedeutungsverlustes der Automobilindustrie.

Aber die Erholung geht weiter, im Dezember konnten die Exporte den achten Monat in Folge zulegen. Es sieht jedoch danach aus, dass die Lockdown-Maßnahmen wie befürchtet weiter verlängert werden müssen. Gleichzeitig scheint man nicht gewillt zu sein, die Grenzen zu Österreichs südafrikanischem Mutanten-Hotspot Tirol schließen zu wollen, was unweigerlich den weiteren Eintrag dieser gefährlichen Variante nach Deutschland befördert. So dürfte sich der Startzeitpunkt der erwarteten kräftigen Erholung weiter ein ums andere Mal nach hinten verschieben. Europa scheint durch die stockende Impfkampagne den Anschluss an die Weltwirtschaft zu verlieren. Da die USA und Großbritannien ihre Bürger zurzeit fünfmal so schnell impfen, dürften diese ihre Volkswirtschaften auch ein bis zwei Quartale früher öffnen können. In Deutschland muss im ersten Quartal 2021 mit einem Rückgang der wirtschaftlichen BIP-Leistung um ca. 3 % gerechnet werden. Steht zu hoffen, dass wie erwartet die Impfstofflieferungen im zweiten Quartal kräftig an Fahrt aufnehmen. Der vorbildliche Aufbau der Logistik in den Impfzentren und die immense Hilfsbereitschaft vieler auch ehrenamtlicher Helfer wird den Erfolg der Impfkampagne garantieren, sobald die Impfstoffe breit verfügbar sind. Davon und auch von ihrer Wirksamkeit gegen die neuen Mutanten wird abhängen, ob die Wirtschaft sich nachhaltig erholen wird und dann die Aktienmärkte ihr aktuell anspruchsvolles Bewertungsniveau halten können.

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