Das Horrorjahr 2020 liegt endlich hinter uns. Für das neue Jahr 2021 begleiten uns allerorten die besten Wünsche, vor allem für die Gesundheit. Da trübt es die Stimmung, dass die Covid-19-Pandemie in Deutschland und den westlichen Industrieländern aktuell nicht in den Griff zu bekommen ist. Das Anlaufen der Impfkampagnen sorgt zumindest für so viel Optimismus, dass die Aktienmärkte sich auch im neuen Jahr weiter auf Rekordkurs bewegen. Es wird gemutmaßt, dass mit dem weitverbreiteten Verabreichen von wirkungsvollen Impfstoffen eine Art Kipp-Punkt in der Covid-19-Pandemie erreicht wurde. Mit weiter voranschreitendem Impfungsgrad in der Bevölkerung könnten weitreichendere Lockerungen ab dem zweiten Quartal zu einem Auflösen des Konsumstaus, insbesondere im Dienstleistungssektor, führen. Die derzeit anhaltenden und uns wohl noch über das Monatsende hinaus begleitenden Lockdowns sollten zumindest ein Absenken der Fallzahlen bewirken, vorausgesetzt, die Schulen als eindeutige Ansteckungsorte bleiben geschlossen. Die Stimmung hinsichtlich des Impfstarts kippte leider angesichts des langsamen Starts der Impfkampagne, die den schon vorab bekannten Produktionsverzögerungen geschuldet ist. Es scheint vergessen, dass noch im Herbst namhafte Virologen darauf hingewiesen haben, dass wie bei vielen Krankheiten eventuell nie ein Impfstoff gefunden werden könnte, geschweige denn klar sein würde, welcher Impfstoff von welcher Firma je zugelassen werden könnte. Anstatt sich zu freuen, sehen manche mal wieder den Anlass, sich nur zu beklagen und zu beschweren und dieses Thema sogar als Wahlkampfstart zu sehen.
Immerhin war der impfbedingte Optimismus auch so stark, dass das unglaubliche Geschehen rund um die Erstürmung des US-Capitols während der Bestätigung des Wahlsieges Joe Bidens an den Aktienmärkten spurlos vorüberging. Geholfen hat dabei, dass die Partei der Demokraten zeitgleich die beiden letzten Senatoren-Posten im Kongress in den Nachwahlen in Georgia erobern konnten. Nach der Mehrheit im Repräsentantenhaus kann nun die Vizepräsidentin Harris bei dem nun vorherrschenden Gleichstand von 50 : 50 Stimmen mit ihrer Stimme bei jeder Entscheidung, in der die Demokraten geschlossen auftreten, die Waage zugunsten der Demokraten kippen lassen. Die Republikanische Partei hat jedenfalls nicht nur wie der abgewählte 45. US-Präsident den Zeitpunkt verpasst, mit Würde und Anstand aus dieser Sache herauszukommen. Dem Amtsinhaber droht nun nach seinem schändlichen Verhalten und seiner Rolle während des „Marsches auf das Capitol“ auch noch ein zweites Amtsenthebungsverfahren, welches die Demokraten nun mit dem Ziel anstrengen, den amtierenden Präsidenten von zukünftigen politischen Ämtern fernzuhalten. Dies zwingt zumindest die Republikanische Partei, endgültig Farbe zu bekennen, wohin sie ihr Kurs führen wird.
Für viele große Tech-Konzerne, die in den letzten Jahren stürmisch gewachsen sind und nun enorme Gewinne aufhäufen, kann in 2020 auch ein Kipp-Punkt vermutet werden. Die Marktmacht dieser Protagonisten ist der Politik weltweit zunehmend ein Dorn im Auge, zumal die sozialen Medien insbesondere auch in Verbindung mit dem 45. US-Präsidenten eine unrühmliche Rolle spielen. Die Maßnahmen der sozialen Plattformen gegen seine wahrheitswidrigen, rassistischen und aufhetzenden Nachrichten kommen natürlich viel zu spät. Es ist nicht sehr glaubwürdig, nun als Wächter der „sauberen“ Meinungsäußerung in den sozialen Medien aufzutreten. Es ist damit zu rechnen, dass sowohl an der Steuer- (Stichwort Digitalsteuer) als auch an der Regulierungsschraube gedreht werden wird. Die überaus hohe Bewertung vieler Tech-Giganten könnte somit auf der Kippe stehen. Ob die Aktienmärkte allgemein in 2021 vor einem Kipp-Punkt stehen, wird sich an der Entwicklung der Value-Werte weisen, die seit Anfang November zu einer Aufholjagd angesetzt haben.
Wenn die Covid-19-Pandemie durch die Impfungen in Schach gehalten werden kann und die erwartete Wirtschaftserholung Fuß greift, kann die über 10-jährige Under-Performance der Industrie- und „Old Economy“-Titel abgebaut werden. Deren Kursanstiege könnten dann den Stillstand bei den in den letzten Jahren bestimmenden Wachstumssegmenten kompensieren.
Manche Kipp-Punkte scheinen auch zusammenzuhängen. Dies war deutlich am Auftreten einer neuen Coronavirus-Mutation in Großbritannien zu sehen, die, weil sehr viel ansteckender, das Pandemiegeschehen in den Kontrollverlust kippen ließ. Die darauf folgende französische Grenzschließung führte den britischen Regierungsverantwortlichen vor Augen, was geschehen wäre, wenn es zu einem „No-Deal-Brexit“ gekommen wäre. Mehrere 10 Kilometer lange Staus mit zehntausenden von LKWs, und das nicht nur ein paar Tage, wie coronabedingt vor Jahresende, sondern monatelang und dauerhaft. Es dürfte ziemlich sicher sein, dass der Anblick dieses Chaos zur „Last-Minute-Einigung“ geführt hat. Es werden nun zwar sowohl Großbritannien als auch die EU unter dem Austritt zu leiden haben, aber die Abbiegung vor dem Kipp-Punkt ins Groß-Chaos wurde von den britischen Regierungsverantwortlichen noch rechtzeitig genommen.
Die für uns gefährlichsten Kipp-Punkte innerhalb des großen Themenkomplexes „Klimawandel“ können eventuell noch vermieden werden. Rund um den Globus verabschieden Regierungen ambitionierte Klimaschutz-Ziele. Sogar China als einer der größten CO2-Produzenten möchte nun mit 2050 zehn Jahre früher klimaneutral agieren. Für Finanzinvestoren eröffnet das mannigfaltige Investitionsmöglichkeiten. Bereits letztes Jahr sind die neuen „Green Bonds“, die auf europäischer Ebene emittiert wurden, begeistert aufgenommen worden. Nachhaltige Investments, die unter dem Label „ESG“ (Environmental, Social, Governance = Umwelt, Soziales, Unternehmensführung) zusammengefasst werden, sind immer beliebter und haben den Nimbus verloren, weniger renditeträchtig zu sein. Ein steigender Anteil dieser nachhaltigen Investments an den Vermögensbestandteilen der Investoren wird die Folge sein.