Die Investoren reiben sich verwundert die Augen. Natürlich kann nach einem derartig schnellen und heftigen Crash wie jenem im März mit einer technischen Gegenbewegung gerechnet werden. Oft kann diese bis zu 50 % der erlittenen Verluste wettmachen. Aber dann traten in der Vergangenheit nahezu immer Verschnaufpausen oder erneute Einbrüche auf. Das berühmte „zweite Bein“ sollte idealerweise ausgebildet werden, um den Märkten das nötige Fundament für künftige Kursanstiege zu geben. Doch diesmal ist davon nichts zu sehen. Je miserabler die Wirtschaftsdaten werden, je deutlicher die Erwartungen für die BIP-Entwicklung von Regierungs-, Zentralbank- oder privater Analystenseite herunterrevidiert werden, desto höher klettern die Aktienkurse. Und wir reden von Konjunktureinbrüchen, die seit der großen Depression in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts ohne Beispiel sind und zweistellige Minusraten erreichen. Nicht für ein Quartal, sondern für das Gesamtjahr 2020. Je tiefer dieses Tal ausfällt, desto länger und mühsamer wird die Erholung sein müssen. Ausgelöst durch die Lockdowns infolge der Covid-19-Pandemie werden diese Einbrüche noch durch viele andere Krisen verstärkt. Die anhaltenden Unruhen in den USA sind nur ein Beispiel. Dabei hätten die USA doch etwas zu feiern gehabt. Aber selten verpuffte eine Erfolgsmeldung derart wirkungslos wie der erste erfolgreiche amerikanische Start einer bemannten Weltraum-Rakete – auch wenn es eine private Firma war, die dies bewerkstelligte. Immerhin hätte dies ein Zeichen neuer Überlegenheit sein können, wie der 45.
US-Präsident in seiner gewohnt arroganten Haltung der Öffentlichkeit glauben machen wollte. Doch wie sieht die Realität aus? Weltspitze in der Zahl der Todesopfer in der Covid-19-Pandemie, vor allem dem zunächst nicht vorhandenen und dann miserablen Krisenmanagement geschuldet, und nun das eklatante Versagen in der Demonstrationskrise, die sich auf das ganze Land ausgeweitet hat. Die berechtigten (friedlichen) Demonstrationen werden von Randalierern und Plünderern geentert und in Misskredit gebracht. Abstandsregeln im Land mit den meisten Ansteckungen und Todesfällen sind obsolet, eine zweite Ansteckungswelle droht, wo die erste noch gar nicht richtig abgeebbt ist. Weitgehend friedliche Demonstranten mit Tränengas zu verjagen, um ein Pressefoto machen zu können, könnte neben seinen gewaltverherrlichenden Tweets ein letzter Fehler gewesen sein, der die Wiederwahl des US-Präsidenten gefährdet. Einem anderen Staatenlenker, dem kanadischen Premierminister Trudeau, verschlug es sogar die Sprache, als er in einer Pressekonferenz auf das Krisenmanagement der US-Administration angesprochen wurde. Es steht zu befürchten, dass sich die einstige Leitmacht USA, die reihenweise internationale Abkommen kündigt oder Organisationen wie die WHO verlässt, nicht nur geopolitisch, sondern auch ökonomisch in die Tiefen der Abstiegszone verabschieden wird. Die Finanzmärkte beweisen jedoch auch hier unglaubliche Widerstandskraft bzw. Ignoranz. Nicht nur die verheerende Lage in den USA geht unter, auch die verschärfte Situation in Hongkong bis hin zur Kriegsrhetorik Chinas Taiwan gegenüber. Eigentlich müssten sich Investoren angesichts der abenteuerlichen Bewertungen, der Einpreisung aller möglichen positiven Szenarien und ungelöster und sich zuspitzender Krisen, wie dem ungeklärten Brexit, nun vermehrt Schweißperlen von der Stirn wischen, aber sie achten nur auf die Höhe des nächsten Konjunkturpakets als Reaktion auf die noch schlimmer ausfallenden Wirtschaftsdaten und die Dicke der Zentralbank-Geldströme, die nicht mehr nur wie in Japan sintflutartigen Charakter angenommen haben.
Für Investoren, die in den Crash-Zeiten Ruhe bewahrt haben und sich nicht von ihren Beständen getrennt haben, ist die aktuelle Situation eine schöne Belohnung.
In den letzten Tagen war ein eindeutiger Favoritenwechsel mit einer Sektor-Rotation in die arg zerfledderten zyklischen Industrien, Automobil- und Ölwerte zu sehen. Selbst Bankentitel konnten davon profitieren. Damit könnte die Aufholbewegung an ihr Ende kommen. Da viele institutionelle Investoren die Aufhol-Rally weitgehend verpasst haben und das Durchbrechen charttechnischer Marken für automatisch ausgelöste Kaufnachfrage sorgt, kann diese Bewegung sogar noch etwas weitergehen. Dennoch dürfte es kein Fehler sein, die strategische Ausrichtung etwas defensiver zu gestalten und Cash-Quoten zu erhöhen. Denn dass die Aktienmärkte sich massiv von den zugrundeliegenden fundamentalen Wirtschaftsfaktoren gelöst haben, dürfte unstrittig sein. Diesen Umstand bezeichnet man auch heute noch als Spekulationsblase, denn vor allem der Ozean an Geldflutungen und Fiskalpaketen spült die Aktienkurse immer weiter nach oben. Sollten sich wirklich alle Problemfelder in Wohlgefallen auflösen und sich die Wirtschaftsentwicklung weltweit steil und v-förmig erholen, wäre das eher erstaunlich. Für die aktuellen Aktienmarktbewertungen ist aber genau dies die Voraussetzung dafür, dass sie bestätigt werden und das Kursniveau unterstützt bleibt.